© Barbara Pronnet erzählt...

Geschichten und Erzählungen
Der Verlust

Sag schöne Grüße und bis morgen.
Seine Hand die ich fest umschlossen hielt, wurde mir durch das ruckartige Anfahren des Zuges entrissen. Ich beugte mich weit aus dem Fenster des Abteils und wir sahen uns in die Augen und ich winkte bis sein Gesicht unklar und seine große, schmale Gestalt immer kleiner wurde.
Ich zog das Fenster zu und ließ mich erschöpft in den Sitz fallen. Der Zug nahm an Geschwindigkeit zu. Ich starrte auf die immer schneller vorbeiziehende Landschaft. Die abgemähten Wiesen und Felder wechselten sich ab und Bäume im Herbstkleid bogen sich im Wind.
Herbstwetter wie im Bilderbuch.
Mich fröstelte obwohl es im Abteil sehr warm war. Ich zog meine Strickjacke fester um meinen Körper und war froh dass keine anderen Fahrgäste anwesend waren. Freu dich doch, in zwei Stunden bist du bei deinen Eltern. Deine Schwester die du schon so lange nicht mehr gesehen hast holt dich vom Bahnhof ab. Tom kommt morgen nach, du hast deine ganze Familie um dich. Familientreffen jedes Jahr um diese Zeit. Verlässlich, sicher.
Meine Hände wurden eiskalt. So ging es mir oft in letzter Zeit, besonders wenn ich an meine Ehe dachte. Ein Kloß im Hals. Unruhe. Nachtschweiß.
Du kommst in die Wechseljahre meinte Tom. Mit fünfunddreißig? Auch das soll es geben. Aber warum verflogen die Beschwerden wenn er mich an sich drückte und mir immer wieder sagte es sei alles in Ordnung? Seit wann hatte ich dieses ungute Gefühl, diese Ängste? Als seine ewigen Besprechungen bis in die Nacht begangen? Oder waren es die wichtigen Geschäftsessen an den vielen Wochenenden? Begann das nicht alles, mit der neuen Projektassistentin? Blond, jung, makellos?
Was ich jetzt am wenigsten gebrauchen kann sind Vorwürfe, sagte er schlechtgelaunt am Frühstückstisch vor einer Woche. Du weißt wie wichtig dieses Projekt für mich ist. Ich kann mich nun mal nur auf mich selbst verlassen. Wenn du dich zu Hause langweilst frag doch deinen Chef ob du wieder ganztags arbeiten kannst.
Aber hatten wir nicht vor fast einem Jahr festgestellt, dass es steuerlich unsinnig war wenn ich den ganzen Tag in der Bibliothek arbeitete. Das was du da ausbezahlt bekommst deckt gerade mal die Fahrkarte und den Mittagstisch, sagte Tom als wir nach der Heirat die Steuer machten. Geh lieber halbtags und versuche am Nachmittag den Haushalt in den Griff zu kriegen. Du hast mehr Zeit für dich und die Wochenenden gehören uns. Du hasst diesen Job doch sowieso.

Dicke Regentropfen prasselten auf die Scheibe. Die erste Haltestelle. Hoffentlich kam niemand in mein Abteil. Ich stand auf und streckte mich. Auf dem kleinen Bahnsteig stand eine Gruppe lärmender Kleinkinder unter der Obhut einer gestresst aussehenden Frau. Vielleicht Waisenkinder? Denk nicht schon wieder das Schlimmste.
Kinder. Ich mochte Kinder. Aber sie machten mir Angst. Die Verantwortung, der Verzicht auf so viele bequeme Dinge. Wie oft hatten wir schon darüber gesprochen. Am Anfang unserer Beziehung hatten wir beide wenig Geld. Später liebten wir das Reisen, die gemütlichen ruhigen Abende, die spontanen Theaterbesuche. Aber jetzt wo es bei mir fast zu spät war, dachte ich oft über eine Familie nach. In der letzten Zeit, wo ich so manches nicht mehr verstand in unserer Ehe, die einsamen Abende ohne ihn, vor dem Fernseher, allein. Es stimmte etwas nicht mehr. Ich fühlte es, Ich müsste es doch fühlen?
Du redest dir ständig etwas ein, sagte er vor einem Monat als ich weinend auf der Coach saß. Ich hatte eine schwere Erkältung. Meine Nase lief und ich kam mir hässlich und ungeliebt vor. Trotz Fieber und Gliederschmerzen kochte ich sein Lieblingsessen um es dann spät abends verkocht in den Ausguss zu werfen. Er kam um Mitternacht. Ich hörte wie er leise den Schlüssel ins Schloss steckte. Wie einer, der ein schlechtes Gewissen hat.
Ich konnte dich nicht anrufen. Ich kam erst um elf aus der Besprechung raus. Ich dachte du liegst schon im Bett und kurierst dich aus.
Versteh doch.
Ich verstand.
Verzeih mir.  
Ich verzieh und ließ mich tröstend ins Bett bringen, wie ein kleines Kind das noch einen Gutenachtkuss wollte.
Der Abschied heute am Bahnhof. War sein Blick nicht völlig geistesabwesend? Seine Lippen spröde auf meinem Mund. Als der Zug aus dem Bahnhof fuhr und ich noch winkte und er sich schon abgewandt hatte, war sein Gang nicht beschwingter, seine Schultern straffer?
Er freute sich mich los zu sein.
Hör auf, was machst du? Rede dir nicht schon wieder etwas ein. Es ist nichts. Bestimmt nicht.
Die Umgebung wurde mir vertrauter. Die kleinen Fachwerkhäuser. Die bekannten Straßen. Ich zog meine Lederjacke an und hob meine Tasche aus dem Gepäcknetz. Der Regen hatte nachgelassen. Nebenschwaden hingen in der Luft. Ich drückte meine Nase an die kalte Scheibe. Mein Atem beschlug sie. Der Zug verlor an Geschwindigkeit. Ich war bald zu Hause, mit negativen Gedanken im Kopf. Die ganze Fahrt hindurch nur an das Schlimmste gedacht.

Schnell verließ ich das Abteil. Der Zug kam fauchend zum Stehen. Ich stieg aus.
Meine Schwester fiel mir in die Arme.
Wie gut du aussiehst.
Du aber nicht, sagte sie. Ich winkte ab. Wir hackten uns unter und gingen zu ihrem Wagen. Sie redete ohne Punkt und Komma und ich nickte oder lächelte, schüttelte den Kopf. Versuchte dem Redeschwall zu folgen. Reiß dich zusammen.
Die Fahrt war kurz, das Elternhaus erschien. Die Mutter stand schon vor der Tür. Der Wagen fuhr in die Einfahrt. Der Vater kam dazu. Ich schluckte den Kloß im Hals.  Umarmung, Liebe. Kaffeeduft.
Hast du geweint, mein Liebling. Sanftes Streicheln über mein Haar. Den Augen der Mutter entging nichts. Ich bin müde, Tom kommt morgen nach, er muss noch arbeiten. Alles ist gut. Mach dir keine Sorgen.
Verständnisvolles Nicken ohne Nachzubohren. Ich ging in mein altes Zimmer und stellte meine Tasche ab. Holte tief Luft. Halt durch, lass dich nicht gehen. Verdirb den Eltern nicht die Freude.
Kaffeetrinken, Plaudern, das Lachen meiner Schwester, frischverliebt. Er ist wundervoll, schwärmte sie schon bei der Hinfahrt von ihm. Diesmal ist er es. Ich weiß es.
Ich wünschte es ihr so sehr.
Abendessen, alte Fotos schauen, Erinnerungen hervorholen, Kichern über Schulfreunde, Entsetzen über die geschmacklose Mode der Teenagerzeit. 
Wann hatten Tom und ich das letzte Mal so unbeschwert gelacht? Wann hatten wir das letzte Mal guten Sex? Licht aus, Missionarsstellung. Einmal im Monat. Wir sprachen nicht darüber. Es war kein Thema. Warum nicht?
Ich rufe kurz Tom an und frage wann er morgen kommt.
Es gibt Schweinebraten rief die Mutter hinterher.
Mit klopfenden Herzen wählte ich die Nummer, stand zitternd mit meinem Handy im Flur. Mailbox. Ich drückte weg. Das heißt nichts. Er sagte er muss was fertigmachen im Büro. Er will ungestört sein. Lass ihm doch mal einen Abend ohne deine Sorgen und unsinnigen Ängste. Gib ihn frei.
Ich ging zurück ins Wohnzimmer. Sie hatten über mich gesprochen. Meine Schwester brach ihr Gerede ab. Ich wollte mich nicht rechtfertigen. Sie fragten mich nicht.
Später in meinem Jugendbett ließ ich den Tränen freien Lauf. Kein Rückruf. Er kommt morgen, morgen kommt er, alles wird gut. Ich schlief erschöpft ein.

Morgengrauen. Ein neuer Tag, neue Gedanken und Einbildungen. Ich stand auf und ging leise ins Bad. Duschte heiß, wusch mir den Gestank des Zweifels ab. Make-up, hübsche Bluse, Jeans, jugendlich, gut drauf sein. Alles was Männer wollen, was er will.

Ich kochte Kaffee und die Küche füllte sich langsam mit meinen Lieben. Küsse, Freude auf das gemeinsame Mittagessen.  Noch mehr Verwandtschaft. Tanten, der alte Onkel. Egal, ich stehe es durch. Tom kommt.
Er kam kurz vor dem Essen. Großes Hallo von der Familie, Schulterklopfen, Küsse links und rechts für die Mutter und Schwester. Gut siehst du aus, mein Vater lobte selten. Ja gut sah er aus. Er lachte über die Witze die jedes Jahr erzählt wurden, lobte die Kochkünste der Schwiegermutter. Strahlte mich an, vermied mir dabei in die Augen zu sehen. Ich sah es auch so. Ich spürte den Graben der sich zwischen uns auftat. Die Schonfrist die ich noch hatte, im Schoße der Familie bevor der Hammerschlag kam, die Faust in der Magengrube.
Später dann die Verabschiedung im Flur, Versprechen von häufigeren Besuchen. Heimliches Zustecken von Geld in meiner Jackentasche. Winken aus dem Auto das rückwärts rausfährt. Alles ist gut Mama, ich melde mich danke für alles, meine Blicke zu ihr.
Die Fahrt schweigend nach Hause. Ein paar Floskeln. Ankommen, auspacken. Wir gingen uns aus dem Weg. Tom machte einen Flasche Wein auf.
Willst du auch?
Brauche ich denn eins?
Er setzte sich auf das Sofa, hielt mir das gefüllte Glas hin.
Ich nahm es. Sah ihn an.
Bitte, ich habe dich so vermisst, schon seit langem vermisse ich dich. Ich fühle mich so allein. Ich möchte dich zurück haben. Sag es mir jetzt.
Er sah mich mit seinen dunklen Augen an. 
Du weißt es doch schon. Ich mache dir nichts mehr vor. Ich kann es doch selber so nicht mehr aushalten, sagte er leise.
Ich setzte mich zu ihm und nahm meinen Verlust entgegen.
 
 


Die Angst
Wenn du versuchst mich zu vergessen
Lass dir sagen es gelingt dir nicht
Ich hab mich zu tief in dein Herz gefressen
Wie eine Krankheit, wie eine Gicht
Gedanken die du an mich verschwendest
Bestimmen deinen ganzen Tag
Versuchst du dich auch abzulenken
Es dir nur schwer gelingen mag
Hast du dann doch einen Weg gefunden
Dass du dich von mir befreist
Hält mein Hauch dich fest umschlungen
Du bist niemals vor mir gefeit.
 

Lebendiges Haar
 
Das Haar krönt die Frau, sagte schon meine Großmutter und in meinem Fall traf dieser Spruch zu. Mein haariges Erlebnis der besonderen Art begann in der Blüte meiner Jugend, gerade mal 25, schlank, groß, toller Busen, das Gesicht leider zu spitz, die Augen zu klein, der Mund zu breit, war ich nicht wirklich hübsch aber dank meiner kupferfarbenen Lockenmähne galt ich als aufregend, mondän, was besonderes. Gepflegt bis in die Spitzen, mit Spülungen und Kuren verwöhnt, schlängelte sich mein Wallehaar geschmeidig glänzend um mein Haupt, mit Minirock und Stöckelschuhen ausgestattet zog ich alle Blicke auf mich, die Finger verführerisch durch die kräftige Fülle gezogen, brachte ich jedes Männerherz zum Erliegen. Ich vögelte mich durch die Gegend, ließ keine Party aus, mein Haar und ich liebten das oberflächliche Leben, glänzend und pflegeleicht wie eine Kurpackung mit Kurzzeitwirkung lebten wir in einträchtiger Harmonie.
Zwischendrin bändigte ich die füllige Pracht die mir bis fast zu den Hüften reichte mit einem goldenen Tuch nach hinten, um es dann verführerisch langsam aus der Lockenpracht zu ziehen damit es dem Opfer der Begierde ins Gesicht sprang und er sich darin wälzen konnte. Mein Selbstbewusstsein definierte ich durch meine Haare, fühlte ich mich doch tief in meinem Inneren unscheinbar, unsicher und wenig interessant.
 
Das Schicksal schlug irgendwann im Frühsommer zu als ich nach der morgendlichen Haarwäsche, Schaumfestiger und lauwarmes Föhnen die Mähne nach hinten warf und die Locken wie gewöhnlich eigensinnig in alle Richtungen sprangen. Ich trug sorgfältig Lidschatten auf als ich plötzlich einen leichten Stich an der Wange spürte. Schnell schob ich die schuldige Haarsträhne hinter das linke Ohr aber nach ein paar Sekunden rutschte die eigensinnige Strähne wie von Geisterhand nach vorne und schnellte in mein geschminktes Auge. „Aua“ schrie ich genervt und sah im Spiegel nach ob der Lidschatten nach meinem Augenreiben nicht verwischt aussah. Mein Anblick ließ mich erschaudern. Die gestuften roten Locken schlängelten sich um meinen Kopf als würde ein leichter Wind durch sie hindurch wehen, die glänzenden Spitzen schlängelten sich wie kleine züngelnde Flammen um mein Gesicht. Ich sah aus wie eine Meduse, es fehlte nur noch das leise zischeln der Schlangenköpfe die jeden Moment zustoßen würden. Entsetzt schloss ich kurz die Augen, als ich nach ein paar Schrecksekunden wieder in den Spiegel sah war alles vorbei. Die Pracht saß perfekt zerzaust, die roten Locken schimmerten im Badezimmerlicht. Du brauchst Urlaub dachte ich entschlossen und verließ eilig die Wohnung um mich in den turbulenten Tag zu stürzen.
 
In der überfüllten Bahn stand ich eng mit der täglich zur Arbeit fahrenden Menschenmasse zusammen. Ich dachte gerade an meinen abendlichen Treff mit den Mädels als eine Frau neben mir zusammenzuckte und vorwurfsvoll in meine Richtung blickte. „Passen sie mal auf, sie stechen mir ja die Augen aus mit ihrem Haar“. Ich murmelte ein leises „Entschuldigung“ und stieg schnell an der nächsten Haltestelle aus. Was war passiert? Was hatten die Locken angestellt? Ich hetzte die letzte Station zu Fuß ins Büro und kam völlig verschwitzt ins anstehende Meeting. Der Tag verlief hektisch und ich wunderte mich nicht dass mir die Haare regelrecht zu Berge standen als ich um 18.00 meinen Schreibtisch verließ.

 
Im vereinbarten Lokal angekommen rutschte ich auf den Barhocker und berichtete den Freundinnen meine Haarstory.
 „Wahrscheinlich ist die Mähne einfach genervt wie ihre Besitzerin, schalt mal einen Gang runter“ kam der Ratschlag. Sie hatten sicherlich recht, ich war eigentlich nur unterwegs, der harte Job, Fitnessstudio, After-Work-Partys, Männergeschichten, Shoppen, ich war wirklich überfordert.
Nach einem lustigen Lästerabend kam ich entspannt nach Hause und ging gleich ins Bett. Morgen traf ich Jürgen, einen wirklich guten Typen mit schönen Augen und ansehnlichen Body, ich wollte Spaß mit ihm haben und musste ausgeruht sein. Das Wochenende stand vor der Tür und ich fand mich unwiderstehlich.
 
Ich schlief gut ein, träumte aber bald dass ich ersticken würde, ich rang nach Luft und konnte nicht mehr atmen. Schweißgebadet schreckte ich auf und konnte erst einmal nichts sehen und schrie, bis ich merkte, dass meine Haare  wie eine undurchdringliche Matte auf meinem Gesicht lagen und sich die Haarspitzen in meine Nasenlöchern bohrten. Ich warf das peinigende Gewirr zitternd nach hinten und holte japsend Luft. Hilfe was ist das, dachte ich panisch und lief zum nächsten Spiegel. Alles war friedlich auf dem Kopf, die Locken kringelten sich um meine Schultern aber bei genauerem Hinsehen hatte ich den Eindruck sie hoben und senkten sich wie in einem geruhsamen Schlaf den ich leider nur noch schwer in dieser Nacht finden konnte.
 
Der nächste Vormittag verlief zunächst harmlos, ich hatte am frühen Nachmittag einen Friseurtermin vor meinem Date mit Jürgen und wollte bei der Gelegenheit die Spitzen etwas stutzen lassen. Meine Friseurin war immer begeistert wenn sie mich als Kundin hatte, denn selten konnte sie so gesundes, dickes und robustes Haar verwöhnen. Sie massierte mir bei der Wäsche die Kopfhaut und ich wollte ihr gerade mein Erlebnis schildern als sie sagte „ Es ist wirklich unglaublich Frau Weber, ihr Haar fühlt sich richtig lebendig an.“ Ich zuckte leicht zusammen. Sie spürte es also auch. Ich nickte nur und wollte nicht weiter darauf eingehen, sie würde mich nur für verrückt halten. Beim Spitzenschneiden schüttelte sie fast lachend den Kopf und meinte „die wollen gar nicht runter, sie entgleiten mir richtig“. „Schneiden Sie bitte fünf Zentimeter ab, ich möchte sie etwas kürzer“. „Ach wirklich, ansonsten sind sie doch immer so geizig mit ihrer Länge“ tat aber dann wie ich ihr befohlen hatte und nach einer Stunde verließ ich frisch geschnitten, glänzend auftoupiert den Friseurladen. Ich fühlte mich wie ein Filmstar vor der Oscarpremiere.
Im blauem Minikleidchen und goldenen Flipflops traf ich mich dann am frühen Abend beim Italiener mit Jürgen. Wir unterhielten uns angeregt bei Pasta und Wein und unsere Blicke verrieten dass es heute noch zur Sache gehen würde. Da seine Wohnung vom Lokal näher lag gingen wir zielstrebig zu ihm und nach ein bisschen Rumgeknutsche auf dem Wohnzimmersofa ließ ich das Kleidchen fallen und wir zogen in sein Schlafzimmer um. Jürgen sah auch nackt appetitlich aus und ich setze mich auf ihn und wir legten los. Ich warf meinen Kopf nach vorne und brachte wie gewohnt mein Haar als erotisches Beiwerk ins Spiel. Völlig  enthemmt und schon kurz vorm Ziel, hörte ich Jürgen plötzlich gar nicht mehr lustvoll stöhnen sondern jämmerlich röcheln. „Hör auf du erstickst mich“ jammerte er heiser und ich wollte ja auch gleich runter von ihm aber ich konnte nicht. Mein Haar hatte sich wie ein Strick um seinen Hals geschlungen und es sah aus als wollte es ihn erwürgen. „Oh Gott“ hechelte mein Liebhaber und ich zog fest an meiner Mähne um ihn zu befreien, aber es ließ nicht locker. Ich schrie ebenfalls vor Schmerzen denn meine wild gewordene Mähne zerrte an meinem Kopf als würde man mir alle Haare auf einmal ausreißen. Wir gaben wirklich ein schauderliches Schauspiel ab und als ich schon dachte Jürgen würde unter mir sterben ließ der Spuk plötzlich nach und die rote Flut gab Jürgens Hals frei und kroch zurück an das Haupt ihrer Besitzerin. Als wir wieder normal atmen konnten war die Leidenschaft natürlich vorbei. Jürgen sah mich an als wäre ich eine böse Hexe und als ich ihm mein haariges Drama schilderte sah ich die blanke Angst in seinen Augen. Nein, von ihm konnte ich kein Verständnis erwarten, er dachte wohl ich wäre eine männermordende Furie die mit ihrer Waffe Haar ihr grausames Unwesen trieb. Er rief mir eilig ein Taxi und ich fuhr traumatisiert im Morgengrauen nach Hause. Wir sahen uns nie mehr wieder.
 
Von diesem Moment an begann mein persönlicher Krieg mit der roten Gefahr auf meinem Kopf. Die giftigen Spitzen bekamen immer mehr Eigenleben und trieben mir ihre spitzen Stacheln in die Haut. Ich konnte ohne straff nach hinten gekämmten Zopf nicht mehr aus dem Haus gehen und selbst dann spürte ich ihr Zappeln und meine Kopfhaut piekste und juckte zunehmend da ich eine Haarwäsche so weit es ging hinauszögerte.  Wenn ich die Pracht löste begannen die feurigen Strähnen wild zu züngeln und tanzten mir förmlich vor den Augen herum. Seltsamerweise konnte ich meine Horrorsituation nicht wirklich beweisen denn sobald Zuschauer anwesend waren benahmen sich die bösartigen Luder anständig. „Was wollt ihr denn von mir?“ schrie ich in den Spiegel. „ich verwöhne euch, gebe Geld aus für euch, ich dachte wir wären ein Team?“ Ich ließ das rumvögeln, besuchte biedere Ausstellungen, ernährte mich noch gesünder und haarfreundlicher, ging viel an der frischen Luft spazieren, sprach mit einem Gesprächstherapeuten darüber, in der Hoffung das mein neuer Lebenswandel den Locken gefiel, nichts half.
Mein Entschluss stand fest. Wir konnten nicht mehr zusammenleben, wir mussten uns trennen. Ich war depressiv und unsicher geworden. Meine Freundinnen halfen wo es ging aber ich merkte das mir niemand so richtig glauben wollte und ich nahm es niemanden übel denn schließlich konnte ich es selbst nicht verstehen. „Morgen kommt ihr ab“ drohte ich ihnen düster einen Tag vor dem gefürchteten Friseurtermin. Ich weinte mich in den Schlaf, wusste ich doch das meine Wirkung auf das männliche Geschlecht mit einem langweiligen Kurzhaarschnitt dahin war und ich hörte noch den Therapeuten sagen, ich solle doch aufhören mich über mein Aussehen zu definieren, ich würde diese Situation unbewusst über meine Haare steuern weil ich eigentlich doch lieber mein inneres Ich ausleben wolle, bla bla.  Die Würfel waren gefallen. Ich war wohl die Verliererin in diesem Duell.
 
Der Gang zum Schafott am nächsten Morgen war grausam und da ich meine verheulten Augen nicht überschminken konnte lag ich gleich schluchzend in den Armen der Henkerin und erzählte ihr klagend mein Leid. Die Fachfrau hörte mir ruhig zu und streichelte mir mitfühlend über die Wange. Vorsichtig lösten wir den Zopf und mein Feind lag schimmernd und glänzend in ihren geschulten Händen. Sie sah mir fest in die Augen und ich nickte ihr entschlossen zu. Sie holte die scharfe Schere aus ihrem Beutel, packte die rote Schlangenbrut und schnitt sie bis zur Kinnlänge ab. Knisternd  fielen sie auf den kalten Fliesenboden und blieben bewegungslos liegen. Der Feind war tot. Ich schloss meine müden Augen doch mein Herz jagte in meiner Brust.
„Schauen Sie ruhig“ sagte die Künstlerin ein halbe Ewigkeit später und ich gehorchte demütig.
Eine andere Frau sah mich aus dem Spiegel an. Sie war apart, jugendlich aber mit einer gewissen Reife im Gesicht. Die neuen Haare lagen schmeichelnd weich geschnitten, hinter den Ohren gelegt, das Haupthaar brachte meine schöne Kopfform gut zur Geltung. Ich sah nicht aus wie eine verbissene Ökotante sondern einfach wie eine nette attraktive Frau aus. Leicht schwankend verließ ich nach vielen Danksagungen und gutem Trinkgeld den Ort der Hinrichtung und legte mich zu Hause erstmal ins Bett. Ich war völlig erledigt. War der Krieg gewonnen oder nur eine Schlacht?
 
Mein Leben nach dem Lockenmord nahm eine erstaunliche Wende, mein Haar, es benahm sich wieder wie „normales“ Haar wurde morgens kurz durchgewaschen nach hinten gekämmt und blieb dort wo es war. Der Zeitaufwand den ich der Haarpracht widmete gönnte ich jetzt meinem Körper. Ich kündigte das langweilige Fitnessstudio wo ich nur zum „Aufreißen“ hin ging und fing zum Joggen an. Dabei lernte ich eines schönen Tages Dieter kennen und lieben. Wir zogen nach kurzer Kennenlernzeit zusammen in sein schönes Doppelhaus am Stadtrand. Ich legte einen Gemüsegarten an und freute mich auf Grillabende mit gemeinsamen Freunden.
Mein haariges Erlebnis erzählte ich Dieter nicht, er würde mich sicher für hysterisch halten und er fand mich mit dem bequemen Kurzhaarschnitt „megasüß“ und ihm gefiel meine Wandlung vom Großstadtluder zur sportlichen Powerfrau sowieso viel besser.
 
Auch Jahre später, wenn ich alte Fotos von mir ansah und die wilde Meduse mit ihrer Schlangenhorde auf den Kopf betrachte die ich einst war, bekam ich leichte Beklemmungen, war es doch auch ein Teil von mir der gelebt werden wollte. Ein paar Mal startete ich den vorsichtigen Versuch meine Haare wieder wachsen zu lassen aber wenn die roten Locken länger als fünf Zentimeter hinter den Ohren hervorkringelten stachen mich die kleinen Biester schon wieder hinterlistig in meine Wangen und Hals und der Gang zum Friseur war wieder notwendig. Vielleicht besser so denn wenn ich mich wieder für eine lebendige Mähne entschließen sollte, würde ich vielleicht Dieter verlassen und meine alte oberflächliche Lebensweise aufnehmen müssen und das war mir kein Haar der Welt wert.
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